Wankelmütige Tech-Milliardäre bieten uns stets neue Plattformen für unsere Inhalte an. Die Frage ist bloß: brauchen wir immer neue Plattformen oder nicht doch intensiveres Nachdenken über Ziel und Zweck unserer Content-Strategie? Wir hätten da eine Antwort im Angebot. Und zehn Fragen. Wir müssen nun wohl doch alle hierbleiben. Der Reserve-Planet, den man uns versprochen hat, ist vermutlich implodiert, bevor er noch hätte besiedelt werden können. Gemeint ist das Metaverse, jene mystische virtuelle Landschaft, in der wir uns alle hätten treffen sollen, ausgerüstet mit Datenbrillen als neuzeitliches Visier, durch Konsumwelten schlendernd, virtuelle Sneakers kaufend und virtuellen Konzerten lauschend. Party für fünf Nicht einmal die Institutionen der Europäischen Union, berühmt für konsequent erfolgreiche und bodennahe Kommunikationsarbeit, konnte den Planeten Metaverse retten. Die EU hat schon im November des vergangenen Jahres ein Konzert im Metaverse veranstaltet, um die EU-Initiative „Global Gateway“ zum Ausbau der Infrastruktur in Entwicklungsländern zu promoten. Die virtuelle Gala war dann eher schütter besucht: Fünf Menschen waren anwesend, das Gateway war also eher eine Rumpelpiste. Rund 380.000,- Euro hat die fette Party gekostet, pro Besucher:in also etwa 76.000,- Euro. Mir ist auch gleich einmal die Lust daran vergangen, mehr über die „Global Gateway“-Initiative herauszufinden. Ich nehme aber an, dass der investierte Betrag auch in mehreren Brunnen oder ein paar Kilometer Straße in einem Entwicklungsland gut aufgehoben gewesen wäre. Sogar Mark Zuckerberg, für den die Mission Metaverse wohl mehr Apollo 13 als Apollo 11 ist, scheint die Besiedelung seines gedanklichen Exoplaneten nun aufgegeben oder zumindest aufgeschoben zu haben: Ende Februar hat er offenbar beschlossen, dass sich Meta nicht mehr so auf das Verse, sondern auf die AI konzentrieren möge. Es sollen nun AI Personas entworfen werden, die, so Zuckerberg, „Menschen in vielerlei Hinsicht helfen sollen“. Man kann sicher sein, dass uns Mark Zuckerberg in etlichen Präsentationen versichern wird, dass wir auch bisher nur mit größter Mühe ohne AI Personas gelebt haben. Und viele werden es glauben, auch wenn das Versmaß eigentlich schon voll ist. Flüchtige Trends Die Episode mit der gefloppten EU-Gala und der Richtungswechsel bei Meta sind zwei Seiten eines Problems: dass wir im Content Marketing uns allzu leicht im Strom technologischer Willkür mitreißen lassen, statt sicherzustellen, mit unseren Inhalten sichtbar und suchbar zu sein. Zum Jahreswechsel noch, als Open AI und Midjourney höchstens das technologische Dessert für Freaks waren, habe ich viel über jene Trends gelesen, die Content Marketing in diesem Jahr beherrschen würden. Wenig davon war neu, aber vieles war durchaus nachvollziehbar: dass es wichtiger würde, Communities aufzubauen, dass wir uns darauf konzentrieren müssten, bei unseren Zielgruppen auch emotionale Erinnerungsanker zu setzen, dass Dialog vor Monolog komme. Vermutlich hat damals auch das Metaverse in der Glaskugel der Vorhersagen ein bisschen gescheppert. Von all dem ist plötzlich nicht mehr die Rede. Ein Fleischerhaken zur Wunversorgung Worauf aber setzen wir jetzt plötzlich unsere ganze Hoffnung? Genau: auf generische Bot-Texte, die zum Setzen emotionaler Erinnerungsanker und als Grundlage für Dialog ungefähr so geeignet sind wie ein Fleischerhaken zur Wundversorgung. Wir sind in unserer Agentur gerade selbst dabei, die Möglichkeiten der KI auszuloten, sie zu entdecken und verstehen selbstverständlich das Potenzial bei der täglichen Arbeit. Aber vor allem haben wir mittlerweile ein Gespür dafür entwickelt, welcher Prompt auch prompt zu einem Fail zur Erreichung eines Kommunikationsziels führen würde. Wenn die EU nun etwas Komplexes wie Infrastrukturprojekte in Entwicklungsländern zum Thema macht und damit auch zeigen will, wie sich Brüssel global engagiert, wäre ich nicht unmittelbar auf die Idee gekommen, das unbedingt durch coole House Music im Metaverse inszenieren zu müssen. Vermutlich wissen auch die fünf Teilnehmenden der Gala heute nicht unbedingt mehr über Infrastrukturprojekte als sie vor der organisierten Langeweile gewusst haben. Meta ohne Beta Modernisierungsverlierer ist man im Content Marketing, wenn man Technologien und Distributionskanäle zwar einigermaßen beherrscht, sie aber nicht in einen sinnvollen Kontext mit der eigentlichen Funktion und dem Ziel von Inhalten setzen kann. Dass uns Mark Zuckerberg noch vor einem Jahr erzählt hat, wie das Metaverse unser ganzes Leben prägen und völlig neue Perspektiven auf Inhalte eröffnen würde, nun aber aus Meta vielleicht nicht einmal mehr Beta wird, sollte uns ein wenig wachsamer werden lassen. Das gilt nicht nur für den geplatzten Ballon Metaverse, das gilt auch für KI oder Heiße Luft-Plattformen wie BeReal. By the way: hat schon einmal ein Content Marketing-Guru versucht, eine heiße Kampagne auf BeReal zu bauen? Nein, worauf wir uns im Content Marketing konzentrieren müssen, sind nicht unbedingt weitere wackelige Trägersysteme für unsere Inhalte, sondern unsere Inhalte selbst und wie sie unsere Zielgruppen begleiten und was sie in ihnen auslösen. Und wenn wir uns für neue Plattformen entscheiden, dann ist entscheidend, wie die zu unseren Inhalten, zu unserer Strategie, passen. Dazu braucht es vor allem thematische Kompetenz, die Bereitschaft zum Dialog, Empathie und Kreativität. Diese Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie eine neue Plattform erobern:
Der AutorMartin Schwarz ist geschäftsführender Gesellschafter von AustriaContent Moss & Schwarz. Kommentare sind geschlossen.
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Juni 2023
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